
Ableger
Die Nachmittagssonne blitzte kräftig durch die zugezogenen Vorhänge und reflektierte gegen die Eierschalen weißen Tapeten direkt in das Gesicht von Matthias Kantwig, der immer noch in seinem Federbett schlief.
Ab und zu brummelte ein Auto durch die Straße und gelegentlich hörte man auch ein paar Kinder schreien und lachen, während die Vögel dazu zwitscherten.
Der Wecker klingelte. Matthias schaute auf, schaltete den Wecker aus, ging ins Bad, zurück ins Schlafzimmer, machte sein Bett, ging in die Küche, drückte auf dem Knopf der Kaffeemaschine, welche das bereits vor 9 Stunden präparierte Wasser durch den Filter tropfen ließ, ging wieder ins Schlafzimmer, zog die Vorhänge auf, blickte auf die Plastikpflanze auf seiner ansonsten leeren Fensterbank, bevor er vor seinem Kleiderschrank stehen blieb und wie jeden Tag ein graues Hemd und eine blaue Hose anzog.
Frühstücken um vier Uhr nachmittags, danach noch ein paar Erledigungen. Zum Supermarkt, zur Bank, zur Post und wieder zurück in seine Wohnung.
Abwarten. Zeitung lesen.
Langsam kehrten die Nachbarn in ihre Wohnungen ein. Das war das Zeichen das Matthias los musste.
Er nahm seine Steppjacke, die Schlüssel, das Portemonnaie und schaute noch einmal zurück in seine so friedlich stille Wohnung, bevor er in die bereits dunkel gewordene Außenwelt verschwand.
Das Taxi stand nicht weit von hier. Aufsperren, Schild anbringen und auf Richtung Hauptbahnhof. Um diese Zeit gab es dort die meisten potenziellen Kunden aber auch die meiste Konkurrenz. Wie jede Nacht stellte er sich unter die Gleisüberführung neben den Kiosk und beobachtete die Leute. Wie jede Nacht hoffte er das jemand sich aufgrund von Gemütlichkeit entschloss ein Taxi zu nehmen, anstelle der U-Bahn und wie jede Nacht, verweilte er. Eine Frau in Stiftrock und Blazer stieg die Treppen hinab und ging schnellen Schrittes auf den Kiosk zu, unterhielt sich mit dem Verkäufer, kramte in ihrer Tasche und drehte sich um. Sie würde ein Taxi nehmen, das wusste Matthias. Tatsächlich blickte die Dame kurz darauf in seine Richtung. Ein kurzes Kopfnicken und sie stieg ein.
„Abend“
„Guten Abend“
„Wo solls hingehen?“
„Am Zirkus 4“
„Natürlich“
Das Taxi setzte sich in Bewegung. Zweimal scharf links, am Haupteingang des Bahnhofs vorbei, rechts, dann eine rote Ampel.
Ein Telefonklingeln
„Junker, Hallo? Ah ja, ich bin schon auf dem Weg zu Ihnen. Haben Sie die Unterlagen schon bekommen? Gut. Nein, der Termin für die Anhörung ist noch nicht angesetzt...“
Anhörung?
Grünes Licht weiterfahren. Wieder links über die Hugo-Preuß-Brücke.
„Das ist richtig, den Antrag für die Geschlossene Verhandlung habe ich bereits eingereicht und aufgrund der aktuellen Gefährdungslage sollte diesem auch stattgegeben werden. Ja... Ja…“
Gefährdung?
„Ja, Auf Wiederhören“
Rote Ampel. Matthias schaute in den Rückspiegel. Die Frau schaute ihn an, hinter ihr ein weiteres Taxi.
„Sie haben gelauscht“
„Nein“
„Wissen Sie ich bin Anwältin“
„Ach so? Dann stehen Sie doch unter Schweigepflicht?“
„Ich bin kein sehr schweigsamer Mensch, muss ich mir etwa sorgen machen, dass Sie etwas weitererzählen? Vielleicht sollte ich doch in das Taxi hinter uns umsteigen.“
Reinhardstraße weiter geradeaus wieder eine rote Ampel.
„Nein, das wird keineswegs nötig sein.“
„Mmh. Man hat erst vor kurzen wieder versucht mich mundtot zu machen.“
„Wie das?“
„Die Dieffenbachia“
„Dieffenbachia? Sollte man die kennen?“
„Das kommt ganz darauf an, besitzen Sie viele Zimmerpflanzen?“
„Nein“
„Dann wohl eher nicht“
„Und was meinen Sie mit mundtot?“
„Cyanogene Glycoside“
Ein fragender Blick von Matthias
„Ein Gift, das macht den Mund stumm und die Kinder weg, haben Sie Kinder?“
„Nein, ich lebe allein“
„Dafür sind Sie aber ziemlich keck“
„Ach ja?“
Ein Fahrrad aus der Seitenstraße
„Oh Schreck!“
„Was für ein Raudi!“
Durch die Einbahn und Am Zirkus Nr. 4
„Wie viel kriegen Sie?“
Matthias zeigt stumm auf das Taxameter 8,70€
„Behalten Sie den Rest“
Ein 10€ Schein
Die Frau stieg aus. An einem Hauseingang steht ein Mann und wink ihr zu. Hinter der Kurve steht ein
weiteres Taxi und wartet ab.
Matthias beobachtet die Situation
„Ah Hallo Herr Löber, dann waren Sie auch schon bei Ihr? Wie geht es Ihr heute?“
„Den Umständen entsprechend würde ich sagen, vorhin etwas dehydriert“
„Dann haben Sie schon gegossen?“
„Natürlich“
„Nun gut, Auf bald“
„Ja, Auf Wiedersehen“
Der Mann kommt auf das Taxi zu, ein zustimmendes Nicken von Matthias und er steigt ein.
„Guten Abend“
„Abend“
„Zum Potsdamer Platz“
„Wo genau dort?“
„Irgendein Hotel“
„Das Ritz Carlton?“
„Perfekt“
Das Taxi, sowohl das von Matthias als auch jenes welches sich im Schatten des Rückspiegels versteckte setzten sich in Bewegung
„Sie bleiben nur für eine Nacht?“
„Ja, ich bin beruflich hier“
„Was machen Sie denn beruflich, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin Therapeut“
„Und da behandeln Sie zu so später Stunde noch Patienten?“
„Meine Patientin hat am Tag zu viel zu tun, nur nachts wirklich Ruhe und Zeit für solche Termine“
„Das erklärt dann auch den Besuch der Anwältin“
„Ach Sie meinen Frau Junker? Die kenne ich kaum, wenn Sie mich fragen keine allzu gesprächige Dame, gerade was ihre Mandanten angeht. Aber wir verkehren durchaus in denselben Kreisen. Und sie hat, so wie ich, ein grünes Händchen was solche speziellen Fälle angeht.“
„Inwiefern denn speziell?“
„Ach Sie wissen doch, ich darf darüber nicht reden, Patienten Geheimnis“
Schweigen durchfuhr den Innenraum während Matthias geradeaus über den Schiffbauerdamm lenkte dann links über die Brücke, Friedrichsstraße immer weiter Richtung Konzerthaus.
Das Auto glitt nur so durch die Straßen dieser angenehm kühlen Frühlingsnacht, Häuser und Laternen spiegelten sich in den Fensterscheiben, hin und wieder ein Blick in den Rückspiegel.
Zwei Taxen um 23 Uhr durch Berlin Mitte .
Genau 2,7 Kilometer und 7 Minuten später erreichten sie den Potsdamer Platz. Das Taxameter zeigte in seiner rot
leuchtenden Schrift 14 €, Herr Löber reichte Matthias einen 20€ Schein und zeigte mit einer abweisenden Handbewegung das er kein Rückgeld verlangte.
„Danke, sehr Großzügig“
„Ach, die Dieffenbachia zahlt gut“
Ein leichtes Grinsen huschte über das Gesicht des Therapeuten, doch bevor Matthias dieses deuten konnte, stieg Herr Löber aus dem Fahrzeug aus und lief gemütlich zum hell erleuchteten Eingang des Hotels.
Matthias schaute dem Herrn noch ein Stück nach als ein anderes Taxi an seiner Fensterscheibe vorbei
schallte, daraufhin ein Klopfen an der Scheibe.
Matthias löste die Tür Verrieglung ein Mann stieg ein.
„Abend“
„Guten Abend, da haben sie mich aber kurz erschreckt“
„Am Zirkus 4“
„Schon wieder, sie sind heute schon der dritte“
„Ich weiß“
„Dann sind Sie mir also gefolgt?“
„Wer waren die anderen?“
„Eine Anwältin und ein Therapeut“
„Man muss vorsichtig sein in diesen Zeiten. Wissen Sie meine Mandantin ist von sehr vorsichtiger Natur“
„Auch diese Dieffenbachia? Ich habe schon so einiges gehört“
„Tatsächlich, Sie sollten nicht so neugierig sein“
„Ich beobachte nur“
„Passen Sie auf, bevor Sie da noch in etwas hineingeraten“
„Hineingeraten? Versucht man mich dann auch Mundtot zu machen“
„Das könnte durchaus passieren, wie sagt Frau Junker immer so schön? Mund stumm Kinder weg“
„Mhm“
„Und was haben Sie mit dieser Dieffenbachia zu tun?“
„Wenn ich Ihnen das nur sagen könnte. Aber vielleicht reicht es ja, wenn Sie wüssten, was ich beruflich mache?“
„Was machen Sie denn beruflich?“
„Ich ermittle. Man könnte mich durchaus als privat Detektiv bezeichnen.“
„Detektiv, so so!“
Ein elektronisches Klingeln ertönt.
„Wieso so überrascht“
„Nein nicht überrascht nur ein ungewöhnliches Tätigkeitsfeld“
„Ist das so?“
Der Mann schaut auf sein Mobiltelefon
„Ja, aber nicht die erste interessante Begegnung in dieser Nacht“
„Und es könnte noch interessanter für Sie werden, es gibt schon einen nächsten Fahrgast.“
Die Blicke der beiden Männer treffen sich im Rückspiegel.
„Die Dieffenbachia“
Matthias nahm diese Information interessiert zur Kenntnis.
Es wurde still im Taxi das leise Brummen des Motors, das Klicken der Blinker beim Abbiegen auf die Reinhardstraße. Sanft in die kurven der Einbahnstraße.
Haus Nr. vier.
Der Mann bezahlte und stieg aus. Matthias kurbelte das Fenster runter
„Das war ein sehr aufschlussreiches Gespräch Herr...“
„Enzel mein Name, Ja durchaus, sehr aufschlussreich.“
„Passen Sie auf sich auf ... und lassen Sie sich nicht Ihren Mund stumm machen!“
Der Mann überquerte die Straße und verschwand in der großen Tür des gelben Hauses.
Matthias war angespannt, er beobachtete abermals die Straße, das hellgelbe Haus mit geschmückter stuck Fassade und in regelmäßigen Abständen wohl platzierten hochgewachsenen Türen.
Plötzlich öffnete sich die Tür der Nummer vier.
Die Dieffenbachia stolperte heraus und winkte mit ihren großen Blättern das Taxi zu sich.
Das Geräusch des startenden Motors durchfuhr die Stille
„Brauchen Sie ein Taxi?“
Ein raschelndes Zustimmen
Matthias stieg aus öffnete die hintere Tür, die Dieffenbachia stieg ein und schnallte sich an, was durch die vielen Stämme und Sträucher nicht ganz einfach war.
Das Taxi fuhr los
Angespannt wechselte Matthias immer wieder den Blick zwischen der Straße und dem Rückspiegel
Straße, Rückspiegel, Straße, Rückspiegel
Die vielen großen Blätter mit den hellgrünen bis gelben Tupfern, die vom Blattstiel ausgingen, wackelten angenehm bei jedem kleinen Huckel mit.
Straße, Rückspiegel, Straße, Rückspiegel
Und dann passierte es
Unter der Brücke des Bahnhof Friedrichstraße rannte ein Passant über die Straße, der schwarze Opel Corsa vor dem Taxi legte eine Vollbremsung ein. Blitzschnell riss Matthias das Lenkrad nach links, genau in diesem Moment kam von hinten eine Tram.
Die Blätter der Dieffenbachia flogen ungehindert durch den Innenraum des Autos, die Karosserie knatschte sich zwischen Tram und anhaltenden PKW, die Tram klingelte, die Autos hupten, das alles wurde nur übertönt durch das Geräusch vom Abreisen der Sträucher, die sich durch den Anschnallgurt pressten und das Knacken der vielen dunkelgrünen gelb gefleckten Blätter.
Das Auto kam zum Stillstand.
Matthias drückte sich gegen die stark deformierte Tür des Beifahrersitzes und kletterte hinaus.
Das Taxi war komplett verbeult und zerdrückt. Die Fensterscheibe des Kofferraums war zersprungen und auf dem Rücksitz zeigte sich ein Schlachtfeld aus Erde, zerrupften Wurzeln, einzelnen Strauch fetzen und hier und da schauten Matthias noch ein paar Blätter entgegen.
Weit weg ertönten bereits Sirenen, Menschen eilten zu Hilfe, doch Matthias wusste der Dieffenbachia war nicht mehr zu helfen. Er drehte sich um. Ein Taxi fuhr an der Unfallstelle vorbei. Matthias winkte, das Taxi hielt und er stieg ein.
„Meine Güte was ist denn hier passiert?“
„Lottumstraße 19“
„Soll ich Sie nicht lieber ins Krankenhaus bringen?“
Matthias wirkte abwesend
„Mund stumm, Kinder weg“
„Wie bitte?“
„Ach nichts“
„War das eine Dieffenbachia die da lag?“
Matthias nickte
„Schade drum außergewöhnlich schöne Pflanzen sind das, aber auch heimtückisch, vielleicht kann man noch ein paar Ableger aus den Blättern kultivieren. Wussten Sie, dass die Nationalsozialisten damals das Gift aus den Blättern extrahierten, um damit Experimente zu kurzweiliger Unfruchtbarkeit durchzuführen?“
„Ach wirklich?“
Matthias wurde aufmerksam
„Ja Cyanogen Glycoside. Machen in größere Menge Unfruchtbar, aber vor allem schwellen sie die Schleimhäute im Mund und Rachenbereich an. War früher auch eine Foltermethode, um aufmüpfige Gefangene zum Schweigen zu bringen“
„Mund stumm“
„Sie sind sich sicher, dass Sie nicht ins Krankenhaus wollen?“
„Was? Nein mir geht es gut!“
„Dann wären wir schon da"
Matthias überreichte dem Taxi Fahrer das Geld
„Na dann, noch eine ruhige Nacht“
„Ja. Nacht.“
Matthias stieg die Treppen zu seiner Wohnung empor öffnete die Tür, legte die Schlüssel auf die Kommode in der Diele, ging ins Schlafzimmer, dann ins Bad, in die Küche, wo er das Wasser in die Kaffeemaschine einfüllte und bereits einen Filter mit Kaffeepulver einsetzte, ging wieder ins Schlafzimmer zu seinem Schrank, wollte die Vorhänge zu ziehen, als sein Blick auf die Plastikpflanze auf seiner Fensterbank viel.
Mund stumm, Kinder Weg.
Er nahm die Pflanze öffnete das Fenster warf diese mit aller Kraft auf die andere Straßenseite.
Ein kurzes klirren, danach stille.
Ein kalter Luftzug wich über das Gesicht von Matthias Kantwig als er dort so am geöffneten Fenster stand und leeren Blickes seiner Plastikpflanze nachschaute.
Fenster schließen, Vorhänge zu, Wecker an, Licht aus, Augen zu.